Der Besuch der alten Damen

Klimaseniorinnen in Strassburg
Bild: Valentina Panagiotopoulou I Greenpeace

Sie gilt heute schon als historisch - die Reise der älteren Damen nach Strassburg. Begonnen hat diese Reise vor sieben Jahren. Inspiriert von Greenpeace, fanden sich Klimaseniorinnen aus allen Landesteilen zusammen, um den Bundesrat dazu zu bewegen, die Versprechen des Pariser Klimaabkommens einzulösen. Mit ihren Klagen sind sie in der Schweiz bislang gescheitert. Deshalb wird jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein höchst bedeutsames Urteil fällen müssen. 

Der EGMR wird die Frage – voraussichtlich bis Ende 2023 – beantworten müssen, ob ein ausgewogenes Klima ein Menschenrecht sei. Denn darauf berufen sich die Frauen. Ältere Menschen litten besonders unter extremem Wetter, vor allem unter der Hitze. Der Bundesrat handle viel zu wenig entschlossen, um das Ziel von 1,5 Grad Erwärmung einzuhalten. Tatsächlich beträgt der Temperaturanstieg in der Schweiz bereits um die zwei Grad. 

 

Die ersten Vorstösse beim Bundesamt für Umwelt sowie wie bei den zugehörigen Ämtern fanden kein Gehör. Auch das Bundesverwaltungs- und Bundesgericht erteilten den Klimaseniorinnen eine Absage. Der Schritt an den EGMR war besonders gewagt, gehen dort doch täglich Hunderte Anfragen ein. Doch diesmal gab es keine Absage, der EGMR entschied sogar, das Anliegen prioritär zu behandeln.

 

Die Grosse Kammer wird nun darüber debattieren, ob die Schweiz mit ihrem viel zu zögerlichen Handeln beim Klimaschutz Menschenrechte verletzt. Und genau deshalb hat das Verfahren international grosses Interesse ausgelöst. Im Rahmen der Anhörung jedenfalls wurde schnell einmal klar, wie die Häsin läuft. Die Vertreter der Schweizer Behörden sprachen den Klimaseniorinnen a priori das Recht ab, Opfer der Klimaerwärmung zu sein. Das könnten nur Individuen sein, nicht aber ein Verein. Und der Gerichtshof überschreite seine Kompetenzen bei weitem, falls er der Beschwerde recht gebe.

 

Dabei berief sich die Schweiz auf das Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2020, das die Beschwerde der Klimaseniorinnen abwies. Die Begründung: Klimamassnahmen müssten politisch und nicht auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden. Und genau hier hakt die Klage ein: Wenn die Politik nichts oder zu wenig tut, muss sie dazu eben gerichtlich verpflichtet werden. 

 

An nationalen und internationalen Gerichtshöfen sind mehrere ähnlich gelagerte Fälle hängig. Etwa der eines Bergbauern in Peru. Weil ein schmelzender Gletscher seine Existenz bedroht, klagt er gegen den deutschen Energieriesen RWE, der zu den weltweit grössten CO2-Emittenten gehört. Auch Saúl Lliuya kämpft nicht allein, er hat die deutsche Umweltorganisation Germanwatch an seiner Seite. Sieben Jahre dauert das Verfahren mittlerweile, jetzt geht es in die entscheidende Phase.

 

Lliuyas Haus droht weggeschwemmt zu werden, wenn Andengletscher weiterhin abschmelzen und eine Flutwelle auslösen würden. Deshalb befasst sich das Oberlandesgericht Hamm in einem Prozess mit eben diesem Haus. Das Gericht muss die Frage beantworten, ob ein deutscher Energiekonzern verantwortlich gemacht werden kann für das Abschmelzen ferner Gletscher. 

 

Germanwatch und Klimaforscherinnen sagen: Ja, kann er. Das Gericht hat den Fall als «schlüssig» zugelassen. Und die deutschen Richter haben sich immerhin nach Peru bemüht, um sich vor Ort zu informieren, wie bedrohlich die Lage für die nahezu 50’000 Menschen in der Gegend ist. Tatsächlich löst sich der Permafrost in bedenklichem Mass auf, Gletscher und Felsen sind instabil und können jederzeit abstürzen. 

 

Auch das Zuger Kantonsgericht befasst sich mit einer ähnlichen Klage von vier Bewohnerinnen und Bewohnern der indonesischen Insel Pari gegen den weltgrössten Zementhersteller Holcim. Pari ist aufgrund des Meeresspiegelanstiegs von Überflutungen bedroht und zunehmend Opfer heftiger Stürme. 

 

Oliver Classen, Mediensprecher der NGO Public Eye, die Menschenrechtsverletzungen von Schweizer Unternehmen untersucht, ist überzeugt, dass Gerichte künftig eine zentrale Rolle im Thema Klimagerechtigkeit spielen werden: «Wir Schweizer sind Weltmeister in der Verantwortungsdiffusion. Vor allem, wenn es um den Schutz des Wirtschaftsstandortes geht.»

 

Sollte etwa RWE verurteilt werden, droht eine veritable Klageflut. Nicht nur gegen den Energieriesen, sondern gegen andere Grossemittenten. Und genau das ist das Ziel der Umweltorganisationen: Erst wenn es um viel Geld geht, werden die Finanzmärkte Druck auf die Klimakiller ausüben. Und die Politik steht unter Druck, weitere Klagewellen zu verhindern. Das sei wirkungsvoller als jedes internationale Klimaabkommen und jede Fridays-for-Future-Demo.

 

Anwältin Roda Verheyen, die Lliuya vor Gericht vertritt, ruft die grossen Umweltfälle in den USA in Erinnerung. Bis es wegen Asbest zu einer Verurteilung kam, wurden um die 300 Klagen geführt. Doch der Fall des peruanischen Bergbauern ist nicht unproblematisch. Die Skepsis der indigenen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Expertinnen ist gross: «Die Gringos aus aller Welt kommen hierher und vermessen unsere Natur. Wollen die unseren See? Unser Wasser? So wie sie unsere Bodenschätze plündern?»

 

Saúl Lliuya selbst sieht die Problematik viel einfacher, genau so wie die Schweizer Klimaseniorinnen: «Wenn ich gewinne, gewinnt auch RWE. Wenn ich verliere, verlieren alle, auch RWE.» Warum? «Wir leben alle im selben Haus.»

Christa Dettwiler 


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