Klimaseniorinnen: Wir klagen an.

Bild: Solarspar
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Uns älteren Semestern könnte der Klimawandel eigentlich egal sein. Der Horizont kommt näher. Bald haben wir’s hinter uns, das Leben. Wären da nicht die Kinder, die Liebe zu allem, was auf diesem Planeten kreucht und fleucht, zu diesem Paradies, das uns mit der Geburt in den Schoss fällt. Auch den Klimaseniorinnen – oder wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt «eine Gruppe älterer Frauen» –  ist der Klimawandel alles andere als egal. Sie klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz.

Ihre Begründung ist einleuchtend: «Die Klimaerwärmung macht heute schon Menschen krank. Wir älteren Menschen gehören dazu: Wegen der häufigeren und intensiveren Hitzewellen steigen die Risiken frühzeitig krank zu werden oder zu sterben für uns übermässig an. Ausserdem müssen wir heute handeln, um unsere Nachkommen vor noch viel schlimmeren Auswirkungen zu schützen. Wir klagen, weil alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht.»

 

Alles, was uns lieb ist, steht auf dem Spiel. Deshalb haben sie den Fall «Verein Klimaseniorinnen und andere contra die Schweiz» vor den EGMR getragen. Und zwar wortwörtlich. Am 8. Oktober 2020 startete eine Delegation von Bern aus nach Strassburg, um die Klage einzureichen. Das, nachdem das Departement für Umwelt, Verkehr und Energie vier Jahre zuvor aus formalen Gründen nicht auf das Begehren der Klimaseniorinnen eingegangen war, und das Bundesgericht im Frühling 2020 ihre Beschwerde abgelehnt hatte.

 

Im März 2021 gab der EGMR dann grünes Licht und räumte der Klage sogar Priorität ein. Die Klimaseniorinnen klagen die mangelnde Bereitschaft der Schweiz ein, den Klimawandel dezidiert zu bekämpfen. Der Bund unterlasse es etwa, ältere Frauen vor Auswirkungen der Erderwärmung zu schützen. Das verletze die Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die das Recht auf Leben und auf Achtung des Privat- und Familienlebens schütze.

 

Der EGMR lud den Bundesrat zu einer Stellungnahme ein. Am 16. Juli forderte das Bundesamt für Justiz den EGMR darin auf, gar nicht erst inhaltlich über die Klimaklage zu befinden. Und schob nach, der Beitrag der Schweiz an der globalen Klimaerwärmung sei gering, zudem bestehe ja noch Zeit, weil eine Erwärmung um 1,5 Grad erst um 2040 erreicht werde und Klimaschutzmassnahmen teuer seien.

 

Kein Wunder bezeichnen die Klägerinnen diese Argumente als absurd und schlicht falsch. Rosmarie Wyder-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, kommentiert etwa das Zeitargument, das übrigens durch den neusten IPCC-Bericht klar widerlegt worden ist: «Die Argumentation des Bundesamtes, wir hätten noch Zeit, ist absurd. Das heisst im Umkehrschluss, dass wir uns erst gerichtlich gegen die Versäumnisse unseres Landes wehren dürfen, wenn es für die nötigen präventiven Klimaschutzmassnahmen längst zu spät ist.»

 

Bevor der EGMR ein Urteil fällt, werden die Klimaseniorinnen im Oktober eine Stellungnahme zur bundesrätlichen Stellungnahme einreichen müssen. Dann erst ist der Gerichtshof wieder am Zug. Er wird die Frage beantworten müssen, ob die Klimaseniorinnen tatsächlich Opfer einer Verletzung der Menschenrechtskonvention sind. In der NZZ sagte die Völkerrechtlerin Evelyne Schmid von der Universität Lausanne, es gäbe «plausible Auslegungen, in denen der Gerichtshof zu dem Schluss kommen kann, dass die Beschwerde zulässig ist und dass es ein Problem gibt mit der Schutzpflicht gegenüber diesen Frauen».

 

Es ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahren wirksamer Klimaschutz häufiger via Klagen an verschiedenen Gerichtshöfen eingefordert werden wird, um Regierungen Beine zu machen. Auch deshalb wird das Urteil international mit grosser Spannung erwartet. Die Juristin Helen Keller, die bis Ende 2020 Richterin der Schweiz in Strassburg war, freut sich jedenfalls, dass der Europäische Menschengerichtshof die Klage der Schweizer Klimaseniorinnen priorisiert hat. Wenn man dieses Thema nicht anpacke, könne man sich nämlich «alles andere schenken», sagte sie in der NZZ am Sonntag. 

 

Oder wie es die Klimaseniorinnen formulieren: «Wir klagen, weil alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht.»

Christa Dettwiler