Zweifelhafter Solarboom

Bild: Marek Slomkowski I Unsplash
Bild: Marek Slomkowski I Unsplash

Einen «genialen Morgen» erlebte FDP-Ständerat Ruedi Noser letzte Woche. Der Rest der Welt reibt sich verwundert die Augen. Trotz aller Schwarzseherei hat der Ständerat dem indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative zugestimmt – mit so vielen Konzessionen, dass selbst die Initiantinnen zufrieden sind und zurückziehen. Zudem befand der Rat über eine Solarpflicht für alle Neubauten. Darüberhinaus will er Solaranlagen in hochalpinen Gebieten zulassen. Eitel Sonnenschein also? Nicht ganz. Um den ständerätlichen Solarboom zu verwirklichen, soll der Landschaftsschutz dran glauben.

Lisa Mazzone sitzt für die Grünen im Ständerat sowie in der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (Urek-S). Und sie ist empört. «Das ist ein Bulldozervorschlag, der grob, radikal ohne Hemmung bestehende Umweltschutzrichtlinien über den Haufen fahren will», liess sie sich in der «WOZ»  zitieren. Damit spricht Mazzone das vorgeschlagene beschleunigte Verfahren für grosse Photovoltaik-Anlagen an, das ganz ohne Umweltverträglichkeitsprüfung auskommt.

 

Das alles steht im Urek-S-Entwurf des Energie- und Stromversorgungsgesetzes. Dieser räumt Energiebauten grundsätzlich Vorrang gegenüber Schutzinteressen ein, selbst in Biotopen von nationaler Bedeutung. 

 

Man wird den Verdacht nicht los, dass das Parlament mit einem Chlapf aus seinem jahrzehntelangen energiepolitischen und klimaschützerischen Dämmerschlaf hochgeschreckt und weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Seit mehr als 30 Jahren drängen wir darauf, erneuerbare Energieprojekte massiv auszubauen, Photovoltaik auf allen geeigneten und verfügbaren Infrastrukturen zu installieren. Reaktion des Parlaments gleich Null.

 

Und jetzt, da Schlafmasken und Ohrstöpsel abgelegt wurden, sollen die wenigen freien und teils geschützten Flächen in der Schweiz für die Stromproduktion erschlossen werden. Kein Wunder ist auch Franziska Grossenbacher von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz «schockiert». Nur gerade zwei Prozent machten die wertvollsten Schutzgebiete an der gesamten Landesfläche aus, «aber sie beherbergen ein Drittel aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten», doppelt Julia Brändle vom WWF nach. 

 

In der Energiestrategie 2050 erhielten die Biotope von nationaler Bedeutung noch explizit strengeren Schutz. Aber das war halt noch 2017. Der Vorschlag der Urek-S ist wahrlich radikal: Sie will mit sämtlichen Schutz-, Wiederherstellungs-, Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen für Anlagen für erneuerbare Energien in heutigen Schutzgebieten abfahren. Nicht einmal Strassen, Bauplätze oder Deponien während des Baus müssten mehr renaturiert werden.

 

Doch das genügt der Urek-S noch immer nicht. Wenn schon Kahlschlag, dann richtig. Auch ein Teil des Gewässerschutzgesetzes soll aufgehoben werden, zum Beispiel die heiss umkämpften und heute schon minimalen Restwassermengen. 

 

Irgendwie wird man den Verdacht nicht los, dass die ständerätliche Kommission mit einer verdeckten Agenda agiert. Wieso sollte sie so plötzlich und unerwartet selbst schützenswerteste Gebiete mit Solarmodulen zupflastern wollen, nachdem die Energiewende jahrzehntelang verschlafen und insbesondere der Ausbau der Photovoltaik auf bestehender Infrastruktur torpediert wurde?

 

Lisa Mazzone vermutet ökonomische Interessen vorab der Bergkantone dahinter. Aber da muss noch etwas anderes sein. Wohl in dieser Woche wird der Gesamtständerat über den Kommissions-Vorschlag debattieren. Umweltorganisationen wollen derweil vor dem Bundeshaus demonstrieren.

 

Und dieses Szenario liefert all jenen, die am liebsten weitermachen wollen wie schon immer, das Totschlagargument, das Sie auch letzte Woche an dieser Stelle lesen konnten – aus dem Munde des Axpo-Chefs Herr Brand: All die tollen PV-Projekte würden über Jahre oder Jahrzehnte von Umweltverbänden und Privaten blockiert.

 

Himmeltraurig, nannte Herr Brand das. Himmeltraurig wär’s auch, wenn die ständerätliche Solarrakete mit dieser versteckten Absicht gezündet worden ist.

Christa Dettwiler